aktivesLinden Literatur01 * 19. Februar 2006

Prosa

Rabbi Sussja und die Freaks


Zweihundert Jahre sind vergangen. Zweihundert Jahre die der Gerechte in Sphären

verbrachte, die für uns unvorstellbar sind. Jetzt steht er am Schalter des himmlischen

Reisebüros. Ich möchte einmal wieder zur Erde sagt er dem Mann hinter dem Schalter.

"Erde, Erde" murmelt der. "Ist das nicht dieser Wasserplanet in den jungen Galaxien

mit diesen Wesen, die nichts gebacken kriegen, wie heißen sie noch: die Menschen?"

"Ich mag sie ganz gerne," antwortet Sussja bescheiden. Er könnte ja dem Mann seine

Zaddikcard zeigen, aber ein Gerechter bezeichnet sich selbst nicht als gerecht, denn

er ist ja ein Gerechter.

"Also zur Erde", sagt der Mann, mit Verkörperung oder ohne? "Ohne," sagt Sussja,

"ich will mich erstmal ein bißchen umsehen." "Und wohin? "Nach Hanipol", erwidert

der Zaddik. Der Mann macht ein paar Handbewegungen vor seinem Sphärenfenster, "wenigstens

die Orte gehen jetzt automatisch, redet er vor sich hin, welches Jahr solls den sein?

Zwei und Zwei und ich dabei, singt Sussja vor sich hin. "Zur Erde 2002", er überreicht

einen langen Streifen, "für den Transportengel, sein Strahl geht in einer Stunde,"

wenn Sie eine andere Verbindung nehmen, können zusätzliche gute Taten erforderlich sein.

"Danke mein Engel", Sussja strahlt ihn an. "Naja, man tut was man kann," er dreht sich

schon zum Nächsten.

Sussja steht auf einem Platz, seine Reise hat nur einen zeitlosen Zwischenraum gedauert.

Um ihn herum lauter Menschen, die sich alles andere als himmlisch benehmen. "Na groß sind

wir geworden, Stadt groß. Hören wir mal wie die Leute reden, so türkisch ist das wohl,

und diese russisch, da sind Afrikaner, und diese Damen, deutsch soso, da stehen viele

Leute, er geht auf ein großes dunkles Gebäude zu, Kaufhof steht darauf, "schlau sind sie

diese ssojcherim, preisen ihre Waren in Deutsch an. Rrrrring, ein rasselndes Klingeln

lässt ihn zurückfahren vor einem großen grünen Wagen.

Eine Straßenbahn, die Leute steigen ein und der Zaddik, dem mittlerweile klar ist,

dass dies nicht Hanipol ist mit ihnen. Unterwegs liest er etwas von Hannover,

auch gut sagt er sich, wird schon seinen Grund haben. Interessiert betrachtet er

die Leute und ihre Gedanken. Vorne sitzen vier türkische Mädchen, die ihre Tante

besuchen wollen. Sehr bequem und groß diese Straßenbahnen - und alles ohne Pferde.

Nach einer Weile, der Zaddik kann bereits drei große Türme sehen, die ihm wie

Wehrtürme vorkommen steigen 3 Männer mit viereckigen Taschen ein. Die Fahrkarten

bitte. Sussja sieht, wie die Mädchen innerlich erschrecken. Aha, sagt er sejn

schwarzkowness wie Sishe. Die Mädchen sitzen ganz vorn. Zwischen Ihnen und dem

vordersten Kontrolleur sitzt rückwärts ein ziemlich kräftiger mittelalter Mann, dem

der Branntwein nicht ganz fremd ist. Komm Bär, denkt Sishe, hilf. Der Mann steht auf

und wankt auf den vorderen Kontrolleur zu. "Ich hab, ich hab," stammelt er. "Keine

Fahrkarte, ich weiß. Ihren Personalausweis bitte. "Aber ich hab, ich hab." "Wollen

Sie nicht oder können Sie nicht, dann holen wir eben die Polizei." Geschäftsmäßig

wedelt der Kontrolleur mit Kugelschreiber und Block, was den Betrunkenen irritiert.

"Aber ich hab, ich hab," er holt zu einer großen schwankenden Bewegung aus. Sofort

stehen die anderen zwei Kontrolleure wie der erste einen Kopf kleiner als der Schwankende

neben ihrem Kollegen. "Na, jetzt reichts, wir steigen jetzt zusammen aus." Der eine spricht

in sein Händi. "Ja, Küchengarten." Die Straßenbahn hält. Auf der Straße leert der Betrunkene

seine Taschen. "Aber da ist sie ja," ruft der eine Kontrolleur völlig entgeistert,

"er hat ja eine Fahrkarte." "Aber ich hab, ich hab" - jetzt lassen sie ihn ausreden -

doch keine Rückfahrkarte."

An der nächsten Station steigt auch Sussja aus. Er geht ein wenig umher. Da sieht er

eine dunkel gekleidete Frau mit Kopftuch, die schwer an ihren Tüten schleppt. Er hilft

ihr ein wenig tragen. Die Tüten werden leichter, er begleitet sie durch ein enges altes

Treppenhaus bis in den vierten Stock. Darüber gibt es noch einen Dachboden. Sussja

steigt herauf geht - im wörtlichen Sinn - durch die Tür und schaut sich um. Da steht

ein uraltes Sofa und ein paar Sessel dazu. "Hier wird Sishe ruhen, bis zum Abendgebet."

Zwei Stunden später geht die Tür auf. "Geil". Das is nich schlecht hier, hab ich Dir

ja gesagt. Auf dem Boden werden Rauchutensilien ausgebreitet. Mist, der Tabak ist

fast alle, ich hol nochmal welchen. Der eine geht wieder runter. "Ach so ein Pfeifchen,

wie lange hat Sishe das nicht gesehen?" Der Junge hantiert mit dem Feuerzeug, es wird

gebaut. Es vergeht noch eine Weile. Im Hirn des Jungen breiten sich lange Wellen aus,

lange weiße Wellen, ein wenig erinnert ihn das an das Meer. Sehr beruhigend. Plötzlich

kommt ihm über das Meer jemand entgegen. Er trägt ein weißes Gewand und eine große

Pelzmütze. Wer bist Du? fragt er ihn. "Ach", sagt Sishe, "ein Rabbi". "Ich glaub, ich

werd' verrückt." "Aber nicht doch, wenn man Rabbits sieht, Hasen, große weiße Hasen,

dann ist man verrückt, einen Rabbi zu sehen ist doch ganz normal."

Der Junge steht auf und lässt alles liegen. Er stürzt durch die Tür und rennt die Treppe

herunter. Da begegnet er dem andern, der mit dem Tabak hochkommt. "Rabbi," sagt er

"weißes Meer, alles Licht." "Hab ich Dir nicht gesagt, das Zeug ist geil, voll fett.

"Mit mir nicht," sagt der erste, "bei mir ist jetzt erstmal Rauchpause."

"Aber wieso denn, es wirkt doch 1a bei Dir. "Ja", antwortet der, "aber doch nicht

bevor ich überhaupt angeraucht habe."

Seitdem hat sich zu den 120 Nationen von Linden noch eine hunderteinundzwanzigste

gemischt. Eine himmlische. Echte Chassidim würden darin nichts ungewöhnliches sehen.

"Also Rabbits, weiße Hasen zu sehen, ist verrückt... Aber das wißt ihr ja schon.


Sagen wir nun für heute auf jiddisch:
secher zaddik liw roche
Das Andenken des Gerechten sei zum Segen.


Roland Balzer